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Erledigt In

Das Nashorn

Leon Ospald18/10/22 21:101.6K🔥

Jakob, ein junger Krankenpfleger erlebt einen Arbeitstag, der seinen Entschluss im Krankenhaus zu arbeiten und den Glauben an seine Befähigung für diesen Beruf auf eine harte Probe stellt. Ohnehin völlig unterbesetzt, arbeiten er und seine Kolleginnen bereits an der Belastungsgrenze um allen Patientinnen eine angemessene Versorgung zu bieten, als ein neuer Patient auf Station gebracht wird, dessen Krankheitssymptome alle Erfahrungswerte sprengen und Jakob sich erneut herausgefordert sieht, mehr zu leisten, als er im Stande ist.

Mein Tag beginnt früh. In eineinhalb Stunden, muss ich für die Übergabe in der Stationsküche sein. Frühdienst habe ich meistens drei- bis viermal hintereinander. Häufig tauschen wir die Dienste aber auch. Gerade die Kollegen mit Kindern, müssen oft umdisponieren. Da springen wir dann füreinander ein. Ich habe keine Kinder. Dafür bräuchte es eine Frau in meinem Leben. Ich kann also immer arbeiten. Frühdienst gefällt mir eigentlich besser: man ist um 14:00 raus und hat noch was vom Tag. Nur das Aufstehen ist oft hart. Besonders im Winter. Jetzt ist es Winter und ich traue mich kaum, meine Füße unter der Bettdecke hervorzuziehen. Mein Zimmer hat zwar einen Teppichboden, aber der ist alt und durchgelaufen. Die wenigen Borsten halten kaum die Kälte vom Beton darunter ab. Außerdem ist es immer etwas klamm in meiner kleinen Wohnung. Ich wohne im Wohnheim. Vor etwas mehr als einem Jahr, habe ich den neuen Arbeitsvertrag unterschrieben und auch sofort auf Station angefangen. Das ging alles so schnell, dass ich keine Zeit für die Wohnungssuche hatte. Also bin ich ins Wohnheim gegangen. Vorübergehend, hatte ich damals angenommen. Jetzt denke ich, dass ich gerne mit jemandem wohnen würde, dem ich etwas bedeute. Also ziehe ich auch erst dann aus, wenn ich jemandem etwas bedeute. Ich arbeite elf Tage am Stück und habe dann drei Tage frei. Nicht viel freie Zeit. Aber ich nutze sie, so gut ich kann. Im nächsten Frei habe ich eine Verabredung fürs Theater. Eine Weile bleibe ich noch unter der Decke liegen und zähle nach, wie viele Dienste ich bis dahin noch vor mir habe. Es sind fünf. Heute ist Samstag. Meine Zehen krallen sich in den Teppich, während ich mich strecke. Im Bad muffelt es. Eher eine Nasszelle und leider ohne Fenster.

5:20

Mit einer Tasse Kaffee stehe ich in meinem alten Bademantel auf dem Balkon und rauche meine erste Zigarette. Mein Körper dampft nach der Dusche in der Kälte. Ich will schon lange aufhören, aber das Krankenhaus ist der letzte Ort, um vom Tabak wegzukommen. Alle rauchen. Wirklich alle. Es sind die kurzen Momente am Aschenbecher, die einem eine kleine Flucht erlauben. Man kann sich die Arbeitsschritte von Zigarette zu Zigarette einteilen. Das hilft ungemein. Manche Patienten beschweren sich schon mal, wenn man ans Bett kommt und aus dem Hals stinkt, wie nichts Gutes. Aber damit müssen sie klarkommen. Bei uns sind sie ansonsten wunderbar aufgehoben. Es ist mein erster Arbeitsvertrag nach der Ausbildung und ich hätte es nicht besser erwischen können. Ich lerne jeden Tag dazu und die gesamte Belegschaft gibt mir das Gefühl, dass sie mich dabeihaben wollen. Ich kann jeden fragen, wenn ich nicht mehr weiterweiß. Die Ärzte sind größtenteils Idioten, besonders die beiden jungenStationsärzte: bei ihnen hat man immer den Eindruck, es geht ihnen mehr um ein Lob des Chefarztes, als um die Genesung der Patienten. Aber gut, die meiste Ahnung haben ohnehin die Pflegekräfte. Vor allem die Älteren. Heute ist Samstag. Heute werden die Familien der Patienten zu Besuch kommen. Vorausgesetzt sie haben Familien und verstehen sich mit ihnen. Die Zigarette zieht mir bis in den Bauch.

5:45

Vor ein paar Monaten habe ich mir angewöhnt, zu Fuß zum Krankenhaus zu gehen. Das gibt mir die Möglichkeit, noch in Ruhe wach zu werden und außerdem bin ich nicht sofort mit Körpergerüchen konfrontiert, wie wenn ich mich in den Bus quetschen würde. Schweiß, Urin, Mundgeruch, Füße- das alles werde ich noch den ganzen Tag in der Nase haben.

Es fisselt ein bisschen Graupel, Schnee und Regen, als ich aus dem Bäcker komme. Das Croissant ist noch warm in meinem Mund. Ich laufe schnell. Dabei werde ich endgültig wach.

6:10

In der Umkleide treffe ich Sandro. Wir sagen nur Hallo und ziehen uns dann vor den Spinden um. Nebeneinander gehen wir die Treppe hoch und gleich hinter dem Empfang wieder nach draußen ins Rauchereck. In unseren weißen Kitteln stehen wir in der Dunkelheit und pressen uns in den Winkel neben der Tür.

„Heute wird Amok.“ Sandro schüttelt seine Locken aus der Stirn. Er ist groß und dick und scheint die Kälte überhaupt nicht zu spüren.

„Was meinst Du?“ Frage ich und presse meinen Mund gleich wieder zu, damit meine Zähne nicht klappern.

„Naja,“ Sandro verschränkt die Arme vor der Brust, „ich habe Ralf getroffen. Er sah schon wieder aus wie sein eigener Sargnagel. Andrea kommt nicht. Ihre Kinder haben die Kotzerei und Jürgen kommt auch nicht- wer weiß warum.“

„Dann sind wir…,“ ich zähle schnell durch, „zu fünft!“

„Zu viert. Ralf muss hoch zu einer Sitzung.“

„Och nö!“

„Jap. Und das mit dem ganzen Besuch heute: mein Mann möchte…, könnten wir noch Tee…, dürfte ich mal…, könnten Sie nicht…“ Sandro schnippt den Stummel in Richtung Aschenbecher. Er verfehlt meilenweit.

„Gehn wirs an.“

6:25

In der Küche unserer Station sitzen die anderen schon. Ralf, der Pflegeleiter, Martin, der aus dem Nachtdienst kommt, Tanja und Maria, die sich beide in ihren Kaffeetassen versenken. Als wir alle sitzen, legt Martin los. Er ist müde und will schnell weg. Entsprechend knapp kommen die Informationen zu den Geschehnissen der vorangegangenen Nacht. „War einiges los. Herr D. aus der fünf hat gezappelt. Der ist jetzt im Monitoring. Da haben alle drauf gewartet, dass endlich ein Anfall kommt. Ich glaube, er selbst am meisten. Das Bett ist gleich wieder belegt mit einem Herrn K. Der kommt aus einem Seniorenheim mit Verdacht auf Schlaganfall zu uns. Die Akte kommt hinterher. Da sind um 10:00 die Untersuchungen. Vorher wollte aber die neue Ärztin, Antonia irgendwas, nochmal vorbeikommen. Da solltet ihr gleich noch zu ihm: ich hatte keine Zeit, aber ich glaube, die haben ihn im Heim nicht gut gelagert. Müsst mal schauen, ob es eine offene Stelle gibt. Ansonsten: Frau M. ist hoch auf intensiv. Da sind heute Nacht die Krämpfe zu heftig geworden. Das Bett ist also auch frei und das Zimmer, das ist die vier, damit leer. Da müssten frische Betten rein. Dann kam ein junger Patient rein. Jahrgang 1994. Da sind die Untersuchungen am Nachmittag. Er liegt in der zwei. Ich habe Herr S. zu ihm geschoben. Die Zwei ist jetzt also ein Männerzimmer. Das wars. Die Routine lief problemlos. Frau S. musste ein paar Mal raus und wollte um vier dann einen Kakao, aber eigentlich waren alle brav in ihren Betten.“

Mit den Informationen aus dem Nachtdienst verteilen wir die Aufgaben für die Morgenroutine vor dem Frühstück. Sandro wird Medikamente machen und Temperatur, Blutdruck und den Zuckerspiegel messen. Maria wird schon mit dem Waschen bei den Patienten anfangen, die volle Unterstützung benötigen. Tanja wird neue Betten hochbringen und dann ebenfalls mit dem Waschen anfangen. Ich werde mit Ralf nach dem neuen Patienten schauen und dann ebenfalls Patienten im Bad helfen, während Ralf zu seiner Sitzung muss. Die Termine für die Untersuchungen soll Sandro im Auge behalten und jeden rechtzeitig fertig machen und hochbringen. Wir schütten alle nochmal Kaffee nach und werfen uns dann in die Arbeit.

Ralf zieht mich in das Zimmer, in dem Herr K. liegt. Der Mann ist völlig abwesend. Über ein Venenkatheder im Handrücken und einer Magensonde, wird er mit Flüssigkeit und Nahrung versorgt. Wir ziehen uns Latexhandschuhe über, desinfizieren sie ausgiebig und stellen uns dann von beiden Seiten ans Bett. Ich hänge den Urinbeutel vom Bettrahmen ab, führe ihn am Schlauch zwischen den Gitterstäben zurück und lege ihn ans Fußende des Bettes. Als Ralf die Decke anhebt, erschlägt mich der süße Geruch einer offenen Wunde. Wir müssen nicht suchen: auf der rechten Seite, kurz unterhalb des Oberschenkelgelenks klafft ein Krater, groß wie ein Zwei Euro Stück.

Ralf zieht die Augenbrauen zusammen. Sein ohnehin scharf geschnittenes Gesicht wirkt über dem silbrigen Vollbart noch strenger. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich verstanden habe, dass man sich vor ihm nicht fürchten muss. Mein Respekt ist dennoch riesig. Schon deshalb, weil er nie die Ruhe verliert. Selbst in den kniffligsten Situationen nicht. Seine Bewegungen sind immer exakt und bestimmt. So auch jetzt. Wir fassen den eingefallenen Körper an Schultern und Hüfte und drehen ihn zu mir, auf seine linke Seite. Ich halte ihn in dieser Position, während Ralf die Wunde säubert. Mit einem Plastiklöffel schabt er das entzündete Gewebe heraus. Wie Himbeergelee tropft es vom Löffel auf das weiße Papiertuch. „Jakob?“ Ralf schaut kurz zu mir hoch, während er das Gitter Pflaster vorbereitet. „Wie geht es dir?“

„Was meinst Du?“

„Letzte Woche, da haben wir den Leichnam von Herrn Sch. gewaschen. Du warst dabei, als er gestorben ist. Wir hatten alle eine recht emotionale Bindung zu ihm- aber du doch besonders, oder?“ Herr Sch. war häufig auf Station gewesen. Er hatte Parkinson gehabt und war dann überraschend gestorben.

„Manchmal habe ich Backgammon mit ihm gespielt.“

„Lass dich nicht zu sehr davon anfassen, ja? Das wird dir noch häufiger passieren. Und Jakob: ich finde es toll, wie Du dich machst.“ „Danke.“

Ralf lächelt einmal breit und konzentriert sich dann wieder auf die Wunde. Zehn Minuten später sind wir fertig.

„Lagerst Du ihn in zwei Stunden wieder um?“

„Mache ich.“

Ralf rennt fast den Flur entlang, um noch rechtzeitig zur Sitzung mit der Krankenhausleitung zu kommen. Ich würde wahnsinnig gerne eine rauchen. Der Geruch der Wunde brennt mir auf der Zunge. Aber Maria winkt schon und klopft mit großer Geste auf ihre Armbanduhr. Ich winke ihr den Gang runter zu und spaziere dann sehr langsam zu Zimmer Zwei. Maria ballt und droht mir mit ihren Fäusten und verschwindet dann auch in einem Patientenzimmer.

6:45

Leise öffne ich die Tür und schließe sie hinter mir. Die Vorhänge sind zugezogen. Es riecht nach Schlaf. Es ist still. Die beiden Männer schlafen noch. An der Tür wiederhole ich das Ritual mit den Handschuhen und dem Desinfektionsmittel. Dann gehe ich zuerst ins Bad. Etwas weniger vorsichtig, stelle ich Duschgel und Shampoo bereit und krame nach Waschlappen und Handtuch. Bewusst stoße ich den Zahnputzbecher um und lasse kurz das Wasser laufen. Meine Taktik geht auf: als ich ins Zimmer zurückkomme, ist der Patient in Bett 1 wach. Er zieht sich eben im Bett ein Stück hoch, während ich die Vorhänge öffne. Im Morgenlicht sehe ich ihn erst richtig. Wir sind im gleichen Alter.

„Guten Morgen Herr B. Mein Name ist Jakob. Haben Sie gut geschlafen?“

„Es geht.“ Die beiden Wörter kommen nur schwer über seine Lippen. „Wollen Sie ins Bad?“

„Ja, aber…“ er bricht ab.

Ich gehe zu ihm ans Bett.

„Bitte, vielleicht fühlen Sie sich etwas besser, wenn Sie geduscht haben?“

„Ich weiß nicht.“

„Aber Zähne putzen?“

„Das wäre nicht schlecht.“

Ich stelle mich vor ihn, pumpe das Bett mithilfe der Hydraulik etwas nach oben und beuge mich über ihn.

„Den Arm über meine Schulter. Ruhig richtig zupacken.“

Er macht mit. Mit meinem linken Arm gehe ich unter seinen Rücken und lege meine Hand zwischen seine Schulterblätter.

„Die Knie anziehen, wenn es geht.“

Er zieht die Knie ein Stück an und ich greife mit dem rechten Arm unter seine Kniekehlen hindurch. „Jetzt gehts nach oben.“

Mit einer Drehung meines Oberkörpers richte ich mich wieder auf und führe ihn dabei mit. Ich bleibe vor ihm stehen, halte seine Schultern und klemme seine Beine zwischen meine Knie, für den Fall, dass ihm schwindelig wird und ich ihn auffangen muss.

„Das ging doch, oder?“

„Ja, irgendwie schon.“ Er schmunzelt ein wenig.

„Dann- tänzeln wir mal zum Bad.“

Ich strecke ihm meine Hände und Unterarme entgegen. Indem ich seine Arme festhalte und mich nach hinten lehne, ziehe ich ihn nach oben. In Trippelschritten tapern wir zum Bad.

„Erst Toilette, oder erst Zähne?“

„Zähne bitte.“

Ich halte ihn an Schultern und Hüfte am Waschbecken aufrecht. Nachdem er ausgespuckt hat und die Bürste wieder im Becher steht, fragt er: „und wie gehts weiter?“

„Ich würde Sie zur Toilette führen und Sie dann alleine lassen. Ich stelle mich vor die Tür und singe ein bisschen. Meinen Sie, so könnte es gehen?“

„Ja, denke schon. Aber wollen wir nicht Du zueinander sagen? Du hilfst mir beim Pinkeln, da ist die Förmlichkeit doch albern.“

„Ja, das stimmt irgendwie.“

„Ich bin Karim.“

„Und ich bin Jakob.“ Mit der Schlafanzughose helfe ich ihm noch, dann stelle ich mich vor die Tür und summe ein bisschen „All the World is Green.“

„Jakob. Bitte.“

Schnell bin ich wieder im Bad. Seine Hände zittern stark. Das Toilettenpapier liegt auf dem Boden. „Was ist denn passiert? Was ist bloß los mit mir?“

„Ich weiss es leider auch nicht. Die Ärztin kommt sicher gleich und erklärt Dir alles. Soll ich?“ Ich zeige auf das Papier am Boden. Er nickt bloß.

Unter der Dusche weint er dann doch. Ich werkle mit dem Waschlappen weiter und sage nichts. Ich seife ihn ein, wasche seine Haare und trockne ihn hinterher wieder ab. Er hilft mit, so gut es geht. Zurück im Bett verspreche ich ihm einen starken Kaffee und sage noch, dass die Arztvisite gegen neun bei ihm sein sollte. Dann gehe ich zum zweiten Bett und wecke Herr K., der sich nicht hat stören lassen und die gleiche Prozedur beginnt von vorne.

7:50

Endlich stehe ich für eine Zigarette im Treppenhaus. Nach der Arbeit in dem engen Bad, voll im Wasserdampf, schwitze ich. Vom Eingang im Erdgeschoss zieht eiskalte Luft nach oben. Dennoch: der Rauch brennt angenehm, auf meiner Zunge und vertreibt ein wenig den süßlich verdorbenen Geschmack von meinem ersten Einsatz heute früh. Mir wird zu kalt. Ich werfe die Kippe in den Plastikbecher und gehe zurück, durch den Notausgang wieder auf Station.

7:55

Als ich die Station vom hinteren Ende her betrete, passieren drei Dinge kurz hintereinander: zuerst fällt mir auf, dass der Frühstückswagen bereits da ist und Sandro mit ziemlichem Effet zwei Tabletts herausreißt und mit ihnen in einem Zimmer verschwindet. Am anderen Ende des Flurs, am offiziellen Eingang, steht eine Menschentraube in weißen Kitteln um einen Mann, der wohl eben in einem Krankenhausbett auf Station gebracht worden sein muss. Plötzlich hebt es diesen Mann mit einem wahnsinnigen Schrei aus dem Bett. Sein Körper schnellt nach oben und kracht wieder auf die Matratze. Kurz ist Stille, eine aberwitzige Sekunde lang, dann schreit der Mann wieder los. Seine Stimme ist spitz und hoch. Er schreit wie ein Kind, das auf eine heiße Herdplatte gelangt hat. Der Schrei bricht einfach nicht ab. Als drittes schießen alle Pflegekräfte gleichzeitig in Richtung des unerträglichen Lärms. Wir kommen am Bett an. Das Team der Stationsärzte steht ähnlich hilflos wie wir um das Bett herum, in dem ein seltsam kleiner und verwachsener Mann um sich schlägt.

„Wir müssen ihn fixieren. Er verletzt sich noch.“ Sagt irgendjemand. Wir müssen zu viert Arme und Beine festhalten, um die Gurte um die dürren Gelenke zu schnallen. Mittlerweile stehen weitere Patienten im Flur und beobachten entgeistert, wie wir uns mit dem Körper abmühen. Endlich ist es geschafft und wir schieben das Bett in ein leeres Einzelzimmer. Im Zimmer fällt uns auf, dass die Fixiergurte den Mann nicht halten können: er ist zu klein und droht aus den Schlingen zu entwischen. Die Wahl fällt auf mich, im Zimmer zu bleiben und zu verhindern, dass er sich selbst stranguliert oder aus dem Bett fällt. Ich setze mich auf einen Stuhl neben ihn und lege meine Hand auf seine Brust. Die Haut glüht und sein Herz rast. Aus dem Bad hole ich einen nassen Waschlappen und wische so gut es geht den Schweiß von Brust und Stirn. Der Mann schreit nicht mehr, starrt mich aber unentwegt an und streckt dabei eine riesige Zunge aus seinem Mund. Ich bleibe bei ihm sitzen, wische den Schweiß mit dem Waschlappen ab und halte seine Arme soweit fest, dass er sich nicht verletzt, wenn er wieder anfängt zu toben. Die Anfälle kommen regelmäßig. Etwa alle zehn Minuten krampft sein Körper und es wirft ihn im Bett umher. Nach einer Stunde kommt endlich die Stationsärztin. Wir kennen uns noch nicht. Sie stellt sich als Antonia vor. Dann fragt sie mich über die letzte Stunde aus.

„Wir müssen ein EEG machen. Das geht aber erst heute Mittag, so lange wirst Du hierbleiben müssen, fürchte ich.“ Sie misst den Puls, nimmt Blut ab, spritzt dem Mann ein Beruhigungsmittel. Damit das überhaupt möglich ist, muss ich seinen Arm mit ganzer Kraft auf die Matratze pressen. Ich habe Angst, seinen Knochen zu brechen. Dann bin ich wieder allein. Der Mann starrt mich unverändert an, tobt regelmäßig und nickt für wenige Minuten ein, nur um wieder mit einem Schrei hochzufahren. Die Zeit verstreicht im Wechsel seiner Anfälle und Ruhephasen. Mein Kopf ist leergepumpt. Meine Ohren klingeln von den Schreien, die er ausstößt. Meine Muskeln in Armen und Rücken schmerzen. Mir ist schwindelig.

9:30

Sandro bringt Kaffee in einem Schnabelbecher und zwei mit Wurst belegte Brötchenhälften.

10:00

Antonia kommt wieder. Mit meiner Hilfe misst sie Temperatur, Puls und Blutdruck und spritzt ein weiteres Beruhigungsmittel. „Das sollte ein Nashorn ruhigstellen.“ Zur Antwort hebt es den Mann in einem Anfall von der Matratze.

10:45

Die Pausen zwischen den Anfällen werden länger. Ich wasche den Mann so gut es geht, denn er hat sich eingenässt. Ich rufe Sandro dazu und wir versuchen, ihm eine Windel anzulegen.

„Wie heißt der eigentlich?“ Will Sandro wissen, als wir die Klebestreifen der Windel über dem Bauchnabel zusammenziehen. Der Körper ist so abgemagert, dass wir sie mit einem Verband um ihn wickeln müssen. „Das weiß niemand.“ Antworte ich. „Er war plötzlich auf Station und ist zusammengebrochen. Kein Ausweis, keine Karte.“

11:15

Alle fünfzehn Minuten wasche ich den Mann mit dem Waschlappen. So gut es eben geht, Nach einer Stunde rufe ich wieder nach Sandro und wir wechseln die Windel.

12:15

Das Mittagessen wird auf Station verteilt. Antonia schaut wieder vorbei. „Um 14:00 ist der Termin im EEG. Fährst Du ihn hoch?“

Ich nicke. Und sage nicht, dass meine Schicht um 13:00 endet.

13:50

Im Fahrstuhl hoch zur Untersuchung krampft der Mann wieder. In den Stahlwänden sehe ich mich über das Bett gebeugt. Blass, wie der Patient unter mir. Der Schrei aus dem eingerissenen Mund knallt mir direkt ins Ohr. In der Kabine klingt er seltsam flach- als würde der Aufzugsschacht den Schmerz und die Angst aus ihm heraussaugen.

14:00

Das Bett wird mit jedem Schritt, den ich es schieben muss, schwerer. Der Patient wirft sich darin umher, zerrt an der Fixierung, schreit aber nicht mehr. Michaela hält mir die Tür zum Untersuchungszimmer auf. „Geht das die ganze Zeit so?“ fragt sie und zeigt und zeigt auf das Bett, in dem der Unbekannte sich wieder ins Kissen wirft. „Ja.“ mehr fällt mir nicht dazu ein.

„Du wirst seinen Kopf halten müssen.“

„Ja.“

Ich setze mich auf einen Hocker ans Kopfende. Damit das Gel und die Bänder mit den Elektroden am Kopf angebracht werden können, halte ich ihn in meiner Armbeuge fest. Mein Gesicht liegt fast an der Wange des Patienten. Michaela arbeitet schnell und akkurat. Die Gummibänder sind schon über den Kopf gezogen. In ihnen stecken die Elektroden, mit denen die elektrischen Ströme im Gehirn gemessen werden sollen.

„Jetzt muss er fünf Minuten völlig stillhalten.“

„Wie soll das gehen?“

„Du musst festhalten.“

Ich schlinge meinen Arm weiter um den Kopf des Patienten, drücke mit der freien Hand seinen Brustkorb nach unten und versuche so, die Krämpfe stabil zu halten. Dabei spüre ich seinen Blick. Starr. Angefüllt mit etwas, dass ich für Angst halte. Er bäumt sich gegen meinen Griff. Ich halte dagegen. Schweiß tropft von meiner Stirn auf seine ohnehin schweißnasse Brust. Ich spüre sein Herz rasen- meines hält den gleichen Takt. Meine Muskeln zittern vor Anstrengung. Die Zeit streckt sich endlos um uns aus.

„Kurz noch,“ sagt Michaela endlich.

14:30

Völlig entkräftet sitze ich auf der Bank vor meinem Spind. Unendlich langsam schäle ich mich aus meiner Arbeitskleidung.

14:40

Ich laufe zurück. An einem kleinen Weg bleibe ich stehen. Der Weg führt aus der Stadt, hoch auf einen Hügel und in den Wald. Ich verlasse die Straße. Es liegt Schnee zwischen den Bäumen. Je weiter ich dem Weg in den Wald folge, desto dichter bedecken die weißen Kissen den braunschwarzen Waldboden. Die Luft kühlt mein Gesicht. Immer weiter laufe ich den Hügel nach oben.

Ich stehe auf einer kleinen Lichtung. Zwischen den Bäumen sind die Schatten schwarz. Ich knie mich auf den Boden. Mit beiden Händen greife ich Schnee. Ich reibe erst meine Hände damit ab, bis sie glühen. Dann mache ich das gleiche mit meinem Gesicht.

***

„Erledigt In“ ist ein Erzählband, in dem ich über meine Erfahrungen in schlecht bezahlten Nebenjobs schreibe. Jede Geschichte folgt einer/em Protagonist/in in ihre oder seine Kämpfe in einer prekären Lebenssituation.

Insgesamt sind in „Erledigt In“ zwölf Geschichten und ein Essay („Geht das Geld dir aus….“) versammelt. Der Essay wurde bereits auf Syg.ma veröffentlicht.

Autor:

Leon Ospald studierte an der Universität der Künste. Er schreibt über soziale Konflikte, Armut und Ungerechtigkeiten in der deutschen Gesellschaft. Seine Theaterstücke werden bei Henschel — Schauspiel veröffentlicht. 2020 wurde er mit dem Stückepreis des Else — Lasker Schüler Dramatikerinnenpreises ausgezeichnet.

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