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Frühling zwischen Gräbern

Leon Ospald28/11/22 14:481.4K🔥
Paul Klee, “Angelus Novus”
Paul Klee, “Angelus Novus”

Das Licht der Scheinwerfer schnitt durch Nebelwölkchen, die über die Straße krochen. Die Straße war leer. Über sie kam man zum Friedhof, oben auf dem Hügel. Dahinter, hinter der Gärtnerei, endete die Straße. Sandra beschleunigte und jagte den Toyota über Schlaglöcher. Der Teer war alt, das Auto auch — sollte die Federung doch endgültig kaputt gehen. Es gehörte nicht ihr. Für sie war es nicht mehr als ein Gegenstand. Für ihren Freund bedeutete der Toyota mehr. Sandra lenkte näher an den Rand der Straße. Es krachte in der Federung, als der Vorderreifen gegen die Kante eines Kraters im Asphalt schlug. Sie stritten oft. In den letzten Wochen fast täglich und über alles: über die Zukunft, gemeinsam oder nicht, über die Vorstellungen, wie sie als Paar überhaupt gemeinsam leben wollten und konnten, darüber, was ein gutes Leben sein konnte und was dazu nötig wäre. Am häufigsten stritten sie über Geld. Sandra hatte wenig und wollte auch nicht mehr, ihr Freund hatte genug und es reichte ihm doch nicht. Geld war ihr nicht gleichgültig, aber auch nicht für mehr zu gebrauchen, als davon zu leben und dafür brauchte sie nicht viel. Bei ihm sah es anders aus. Und da war der Vorwurf, über den sie immer wieder in Streit gerieten: sie würde nicht weit genug denken, sie würde nicht planen, sie sei naiv, sie lebe nur eben so und nicht vernünftig. In seinen Augen müsste sie nur aufwachen und die Wichtigkeit von Geld erkennen und dann ihr Leben danach ausrichten, mehr oder überhaupt etwas zu verdienen. Also wollte er sie wachrütteln. Ein Philosophiestudium nur aus Interesse an der Sache zu verfolgen, reine Spinnerei. Sandra war am Ende der Straße angekommen.

Sie fuhr auf den Parkplatz der Gärtnerei und stellte den Motor aus. Hier oben schien die Sonne. Zwischen den Bäumen im Tal hingen Nebelfetzen, kurz davor sich aufzulösen.


Sie war überpünktlich, wie immer. Selbst wenn sie versuchte zu spät zu kommen, kam sie immer noch fünf Minuten zu früh. Er würde wahrscheinlich grade aufstehen, sich strecken, aus der Tür gehen, eine Feige vom Baum pflücken, über die Felsen gehen und sich ins Meer werfen. Sie hatten zu zweit fahren wollen. Nur hatte ihr das Geld gefehlt. Ganz ohne Streit hatten sie entschieden, dass er fahren würde. Manchmal konnten sie das: Entscheidungen gemeinsam treffen. Er hatte sogar verstanden, wieso sie sich den Urlaub nicht von ihm bezahlen lassen wollte. Was es bedeutete mit wenig Geld auskommen zu müssen, abseits von dem Fakt wenig zu haben, würde er nie verstehen. Da war sie wieder: die Last der Fragen, mit denen sie allein war und es bleiben würde.

Sandra schaute auf ihr Handy: keine Nachricht aus Kroatien. Sie legte es ins Handschuhfach, nahm es wieder heraus, stellte es aus und warf es zurück. Sie stieg aus, ging zum Kofferraum und zog dicke, alte Wanderschuhe an. An den Nähten platzten sie bereits auf, die Sohle hatte kaum noch Profil, aber für die Wege, die sie zwischen den Gräbern lief, waren sie noch brauchbar. Sandra nahm noch den Beutel aus dem Auto und schloss es dann ab.

Die Gärtnerei war klein. Neben dem Besitzer arbeitete bloß ein Angestellter im Betrieb. Im Frühling wurden Hilfskräfte wie Sandra eingestellt. Begrenzt auf den Zeitraum der Semesterferien. Sie hatte den Job aus zwei Gründen angenommen: einerseits, weil sie Geld brauchte, wirklich dringend brauchte und der andere Grund war für sie selbst nur schwer zu greifen. Sie erklärte es sich selbst so, dass sie eine Abwechslung zum Studium, zum ewigen sitzen, reden, lesen und denken brauchte. Sie wollte etwas tun, richtig mit den Händen tun, etwas, das nichts mit Credit — Points, Deadlines und Zukunftsperspektiven zu tun hatte. Andere fuhren weg oder hatten Hobbys, um zwischendurch klar zu kommen, sie arbeitete dazu eben in einer Friedhofsgärtnerei. Der morbide Touch des Jobs passte ihr auch. Viele Gräber waren alt, verwittert und mit Moos überwachsen. Sie fühlte sich auf eine seltsame Art wohl. Und wie befreit, wenn sie zwischen ihnen her ging. Dann musste sie sich nicht verstecken, bauchte nicht zu spielen, musste dem Frösteln nicht verbieten, sie zu ergreifen.

Der Tod hatte für sie schon früh, noch in der Kindheit, Gestalt angenommen. Der Körper ihrer Schwester, steif und leer, das war der Tod. Sie spürte ihre eigene Endlichkeit jeden Tag. Eine defekte Heizung, ein Draht und die Neugier eines kleinen Mädchens, so war der Tod zum ersten Mal zu ihr gekommen. Sie träumte wieder. Den gleichen Traum wie als Kind. Seit sie auf dem Friedhof arbeitete, wachte sie wieder davon auf: Sie lag in einem Straßengraben. Sie war allein und versteckte sich — vor irgendetwas. Dann kam das Geräusch. Immer kam zuerst das Geräusch. Ein Pfeifen, wie wenn etwas Scharfes durch die Luft flog. Schnäbel, schwarz und ohne Körper, schwebten danach über sie weg. Die Schnäbel, meistens waren sie zu dritt, suchten nach ihr. Wenn sie über den Graben flogen und ihre Spitzen hin und her zuckten, flatterten Federn, ebenso schwarz, leicht wie Seide hinter ihnen her. Manchmal streiften sie ihr Gesicht. Sie wusste, sobald sie sich bewegte, würde sie entdeckt werden. Sie wurde immer entdeckt. Dann schossen die Schnäbel auf sie zu. Aber anstatt ihre Brust zu durchbohren, flogen sie an ihr vorbei. Sie kreisten dann über ihr, bis sie aufwachte. Jedes Mal war ihr erster Gedanke: sie haben mich markiert.

Zur Gärtnerei gehörte das Wohnhaus des Besitzers, zwei Gewächshäuser, ein Geräteschuppen und mehrere in Beton gefasste Beete. Sie ging über den Hof zum Geräteschuppen. Ihr Kollege war schon da. Malic saß auf einem Korbstuhl im Schuppen, trank Kaffee aus einer Thermoskanne, blätterte in einer Zeitung und rauchte seine elendigen Zigaretten ohne Filter. Als Sandra reinkam, blinzelte er durch den Qualm und Staub ins Licht.

“Mach zu. Schnell. Es zieht.”

Sandra zog die Tür zu und hängte den Haken in die Öse.

“Hast Du einen Kaffee für mich?”

Sie legte ihren Beutel auf eine Holzbank und setzte sich daneben. Malic schraubte den Becher von einer anderen Kanne und goss ein. Er kam jeden Tag mit zwei Kannen zur Arbeit. Eine mit Kaffee und die andere mit “Umdrehung”. Ohne die Kannen ging er nicht auf den Tothof. Er weigerte sich von Friedhof zu sprechen. “Gefällt mir besser”, hatte er Sandra einmal erklärt. “Friedhof klingt nach Frieden. Aber du hast dann keinen Frieden, du bist bloß tot. Dein Wort ist falsch.”

“Was hast du heute mit?” Fragte Sandra und wedelte den Qualm vor ihrem Gesicht weg.

“Glühwein”, sagte Malic und grinste hinter dem Nacktfoto auf der letzten Seite hervor.

“Es ist März.”

“Schmeckt auch im März.” Er drehte eine neue Zigarette. Die würde er rauchen, den Tabak zwischen den Lippen hervorpulen und ausspucken. Dabei würde er kein Wort sagen. So war es jeden Morgen. Um halb acht mussten sie anfangen. Es blieben noch zehn Minuten.

Sandra mochte das Ritual. Sie konnte sitzen und nachdenken, ohne dass jemand etwas von ihr verlangte oder das Schweigen peinlich wurde. Durch die Bretterwand stahlen sich zwei Sonnenstrahlen. Sie teilten den Raum durch den Qualm hindurch in zwei Hälften. Malic schlürfte den Kaffee, der längst nicht mehr heiß war. In ihrem Nacken zog kalte Luft. Sie schaute den Partikeln im Licht zu. Es geht so schnell, …so schnell…, den Gedanken kannte sie: die Zwanziger mit den Versprechungen auf Narrenfreiheit und Abenteuer waren fast vorbei. Auf einmal war es vorstellbar vierzig oder sechzig zu werden oder vorher aufzugeben. Jetzt kommt die Realität sagten alle, jetzt kommt der richtige Kampf. Sie spürte die Müdigkeit wiederkommen. Nur ein Semester hatte sie nicht arbeiten müssen. Nicht wie sonst Nachtschichten und Wochenendjobs zusätzlich zur Uni gehabt. Wenn die Zeit danach noch härter werden würde, fehlte ihr die Kraft dazu. Nicht sofort. Sie würde nicht gleich aufgeben. Aber bald. Urlaub. Von allem. Für ein halbes Jahr weg. Sie schnaubte ihre Wut in den Zigarettenqualm. Es würde keinen Urlaub geben. Nicht so. Nicht frei von den Gedanken an ein danach. Die Müdigkeit würde bleiben.

“Geht es dir gut?”

“Wieso?”

“Du atmest so.”

“Wie denn? Wie atme ich denn Malic? Wie soll man in diesem Aschenbecher schon atmen können!”

“Dann geh raus.” Malic verschwand in der Zeitung.

Bisher waren sie gut zurechtgekommen und keiner hatte versucht ihr Verhältnis zu ändern. Gerade die Distanz hatte es ihnen möglich gemacht, ruhig nebeneinander zu arbeiten und wenn sich die Möglichkeit bot, auch wirklich miteinander zu reden. Aber zu diesen Gesprächen gab es keine Verpflichtung. Es konnte auch sein, dass sie einen ganzen Tag kein Wort miteinander sprachen. Dieses Einverständnis war gestört worden. Die Stille hatte sich verändert und verlangte nach einer Erklärung.

“Für mich ist heute alles düster. Am besten lässt du mich einfach.”

“Nein. Ich lass dich nicht. Muss dich den ganzen Tag ertragen.”

“weißt du, meine Zukunft kommt mir so schwierig vor und deshalb mache ich alles schlecht, glaube ich. Ich würde gerne so vieles machen. Noch im Studium. Aber das ist fast vorbei. Verstehst du?”

“Die Zeit ist Saudreck. Ich weiß: ist falsch, klingt aber besser. Ist halb acht. Wir müssen. Saudreck.”

Die Arbeitsroutine klärte die Situation für sie auf. Wie in den letzten Wochen, mussten die Gräber mit Primeln bepflanzt werden. Sie beluden den kleinen Transporter mit Kisten voller Blumen, zwei Schubkarren und mehreren Gießkannen. Dann fuhren sie ein kurzes Stück über die Straße zum Eingang des Friedhofs. Für diesen Morgen waren die Gräber im ältesten Teil vorgesehen. Der Hügel fiel dort steiler ins Tal ab. Die Büsche standen dichter. Farne wucherten am Rand der Wege. An Sandras erstem Arbeitstag waren sie auch in diesem Teil des Friedhofs gewesen. Sie hatten die Wege mit Gasbrennern von Bewuchs befreit. Dabei war ihr das Grab eines Ehepaares aufgefallen. Mann und Frau waren am gleichen Tag 1933 gestorben. Der Stein und das Beet davor waren gepflegt, mit Wildblumen bepflanzt und frei von Unkraut. Später hatte sie von Malic erfahren, dass das Paar sich zusammen umgebracht hatte. Die Grabpflege wurde von ihrem Konto bezahlt. Sie mussten es vor ihrem Tod eingerichtet und festgelegt haben, dass ihr Grab über dreihundert Jahre hinweg gepflegt werden sollte. Jeden Frühling mussten die gleichen Wildblumen gepflanzt werden und im Herbst, mussten die Zweige einer Blautanne das Beet bedecken.

Malic hielt auf dem Weg neben dem Grab des Ehepaares an. Sie hoben die Schubkarren von der Ladefläche. Sandra half Malic ein Holzgestell auf die Karre zu legen und hielt es fest, während er Kisten mit Primeln vom Transporter nahm und sie auf dem Gestell übereinanderstapelte.

“Im Sommer ist nur gießen dran,” hatte ihr Malic einmal erzählt. “Immer nur hoch und runter. Kanne links, Kanne rechts. Deine Knie hassen dich am Abend.”

In den ersten Wochen war sie tatsächlich von allen Gelenken ihres Körpers gehasst worden. Die Körperhaltung der Akademie wollte nicht so leicht in den arbeitenden Körper übergehen. Ihre Haut riss an den Fingern auf. In der kalten Erde schnitt sie sich an Steinen und Tonscherben. In den Rissen und Schnitten verklebte sich die Erde mit Blut und ergab Entzündungen. Trotz der Wanderschuhe knickte sie häufig um oder rutschte aus. Sie hatte sich erst angewöhnen müssen nach unten, auf ihre Füße zu schauen und darauf zu achten, wo sie hintrat. Sie hatte gelernt, dass es sich nicht lohnte, den Rücken zwischen den Arbeitsschritten durchzustrecken. Die Verhärtung kam dann nur schmerzhafter zurück.

Malic hielt die Schubkarre an einer Wegkreuzung an.

“Du. Drei Kisten. Alle Gräber am Weg.” Er zeigte den Hügel nach oben auf einen Pfad, der zwischen Heckenkirsche und Buchsbaum nach wenigen Metern verschwand. Sie nahm drei Kisten und ging los.

“Mädchen. Handschuhe?” Malic winkte ihr hinterher.

“Schon lange nicht mehr,” rief sie zurück.

Er lachte und hustete gleichzeitig und stapelte sich vier Kisten auf den Arm. Der Pfad knickte hinter einer Mispel scharf nach links ab. Danach führte er parallel zum Hauptweg am Hang entlang. Vor einer Kiefer endete er als Sackgasse. Sie verteilte die Kisten: sechs Gräber waren zu bepflanzen. Ein siebtes lag am Ende des Weges. Das hatte aber kein Beet. Eine Figur aus Stein stand darauf.

Sie kniete sich vor das erste Beet. Sie legte die Primeln aus der Kiste auf die Erde und ordnete sie in diagonalen Reihen. Der Abstand sollte gleich sein, die Fläche nicht zu voll und in der Mitte sollte ein Karo aus vier Blumen entstehen. Sie probierte hin und her und grub dann mit der Hand ein Loch unter jede Pflanze, brach das Wurzelgeflecht auf und steckte die Primeln in den Boden. Mit der Erde aus den Löchern stopfte sie die Wurzeln fest. Jede Pflanze musste hinterher noch gegossen werden, aber damit würde sie warten bis ihre Kisten leer waren. Ihre Hände froren. Durch die Hose kroch an den Knien die Kälte und Nässe hoch. Trotzdem war sie froh, nicht länger nachdenken zu müssen. Die immer gleichen Handgriffe fingen an sie zu beruhigen.

Sie war allein. Die Bäume verdeckten den Blick zum Hauptweg. Sie war mit dem dritten Beet fertig. Sie blieb sitzen. Sie hörte nichts.

Als sie sich zwang wieder aufzustehen, waren ihre Schienbeine nass. In der Erde auf dem Grab blieb der Abdruck ihrer Knie zurück. Sie verwischte die Spur ihrer Schwäche mit dem Fuß. Die Müdigkeit schob ihr Schmerzen hinter die Augen. Wenn nur eine Gewissheit da wäre, ein Signal, dass die Anstrengung irgendwohin führte, dass ein Leben wartete, welches Zufriedenheit bedeutete. Oder einfach nur mehr Kontinuität.

Sandra nahm eine Kiste unter den Arm und ging zum letzten Grab in der Reihe. Sie kniete sich wieder hin und bemerkte die Figur am Ende des Weges. Bisher hatten die Kiefernzweige sie verdeckt. Es war ein Engel aus Stein. Er war alt und von Flechten überwachsen, aber man konnte immer noch sehen wie fein er gearbeitet war. Etwas an seiner Körperhaltung stimmte nicht: da war keine Trauer oder Mitleid in seinem Gesicht. Auch keine Klage nach oben. Die Augen standen weit offen. Der Blick war nach unten, auf seine Füße und nicht auf das Grab vor ihm gerichtet. Sandra verstand: dem Engel fehlte die Kraft weiterzugehen. Die Flügel hingen an ihm herunter, die Füße steckten fest, der Kopf lag auf der Brust. Die Katastrophen der Vergangenheit schreckten ihn nicht mehr. Der Sturm der Zeit hatte ihn gezeichnet und übergangen. Die Angst vor der Zukunft ließ ihn kalt. Er hatte aufgehört sich zu sorgen oder zu hoffen. Er war nur noch Stein. Seinem Verfall ausgesetzt.

Sandra drehte sich weg. Sie hatte das Bild verstanden. Doch das durfte nicht sein: die Geschichte durfte nicht zu Ende gehen, bevor ihre eigene überhaupt richtig angefangen hatte. Sie bepflanzte die anderen Beete. Die Ruhe ihrer Bewegungen war weg. Die Reihen kamen durcheinander und die Karos wurden schief. Alle Primeln waren verpflanzt und Sandra lief um Wasser zu holen. Kanne links, Kanne rechts. Zweimal musste sie laufen. Runter und wieder rauf. Danach sammelte sie die Kisten ein und verstaute sie auf der Ladefläche. Malic winkte ihr von weiter unten zu und gab ihr das Zeichen, mit dem Transporter los zu fahren. Während der Fahrt, warf er leere Blumenkisten auf die Ladefläche und stieg dann selber ein.

“Wir müssen weiter runter. Ich sag Stopp.”

In langen Serpentinen ging es ins Tal. Sie verließen den Alten Teil des Friedhofs. Die Bäume standen weiter auseinander.

“Da vorne, am Brunnen, hältst du an.”

Sandra parkte neben dem Bassin aus Beton.

“Komm. Wir machen Pause.” Malic nahm seinen Rucksack und Sandras Beutel aus dem Fußraum und stieg aus. Sie setzten sich auf eine Bank. Malic schenkte sich Glühwein aus einer Kanne ein und füllte den zweiten Becher mit Kaffee. Für eine Weile saßen sie nebeneinander und schlürften.

“Sandra?” Wenn er eine Frage mit ihrem Namen einleitete, wollte er meistens ein Wort erklärt bekommen, dessen Bedeutung ihm nicht ganz klar war. Oft fragte er nach Erfindungen aus dem Bürokratendeutsch. Wie Zulassungsbeschränkung oder Unterhaltszahlung oder Steuerhinterziehung. Manchmal wollte er von ihr aber auch wissen, wie er seinem Sohn auf bestimmte Fragen antworten solle. Oder ob es stimmte, dass Deutschland erst sehr spät eine Nation geworden war, oder ob es wirklich stimmen konnte, dass das Weltall sich immer weiter ausdehnte, oder ob sie es richtig finden würde, den Sohn aufs Gymnasium zu geben. Er selbst hatte die Schule mit sechzehn aufgegeben. Oder es war umgekehrt gewesen. Das hatte sie nicht genau herausgehört. Irgendwie hatte es sich so ergeben, dass Malic mit ihr reden konnte. In den unregelmäßigen Gesprächen hatte sie schon viele Einzelheiten über sein Leben erfahren. Er wusste von ihr nur, dass sie studierte und kein Geld hatte.

“Sandra?” fragte Malic wieder. “Was ist eine Patientenverfügung?”

“In einer Patientenverfügung bestimmst du, was mit dir geschehen soll, wenn du nicht mehr selbst entscheiden kannst.”

“Wenn ich kaputt bin?”

“Wenn dein Körper kaputt ist. Dann weiss deine Familie, ob sie dich…”

“Töten sollen”, sagte Malic. Er starrte in seinen Becher. “Und was heißt: letzter Wille?”

“Das ist dein Testament. Darin sagst du, was nach dem Tod passiert. Was mit dem Besitz, den Sachen, die dir gehören, geschehen soll. Wer etwas erbt und wie man begraben werden möchte.”“Im Wald.” Malic lachte. “Einfach so. Leg mich in den Wald. Gib mich Käfern und Würmern zum Fressen. Am besten mit einer Nuss im Mund. Dann werde ich ein Baum.” Er kramte nach seinem Tabak und drehte eine Zigarette.

“Malic?” fragte Sandra. “Wieso willst du das wissen?”

Malic spuckte Tabakkrümel zwischen seine Füße.

“Ich bin krank. Am Herz. Seit der Geburt. Hat nur keiner bemerkt.”

“Und…jetzt?”

“Jetzt weiß Ichs.”

“Aber was heißt das?”

“Ich hab einen Arzt. Der untersucht mich. Vielleicht kann mans operieren. Vielleicht macht’s vorher patsch.”

“Wie patsch?”

“Na: patsch. Kaputt. Vorbei. Irgendwas ist nicht richtig. Habe ich nicht genau verstanden.”

“Aber Malic!” Sandra fasste ihn am Arm. “Dann darfst du nicht arbeiten. Du musst dich schonen.”“Nee,” er grinste, “ist nichts für mich. Muss immer arbeiten. Sonst geht mein Kopf auch kaputt. Schneller als Herz vielleicht. Und dann? Herz gesund, aber im Kopf kaputt. Ist auch Saudreck. Komm. Pause vorbei.” Er schraubte die Becher zurück auf die Kannen. “Alle Gräber um den Transporter.” Er wollte losgehen, aber Sandra hielt ihn fest.

“Du redest mit mir darüber. Aber deine Familie, deine Frau, weiß sie davon?”

“Nee, wieso denn? Macht bloß Sorgen. Zu viele Sorgen. Wir arbeiten jetzt.” Er machte seinen Arm los und hob die Schubkarre vom Transporter.

“Du da. Ich hier.” Er zeigte in zwei entgegengesetzte Richtungen und ging los.

In den nächsten zwei Stunden arbeiteten sie. Nur wenn sie Kisten holen mussten, oder Wasser in Gießkannen füllten, begegneten sie sich. Sandra suchte nach einer Möglichkeit weiter zu reden, einen Anlass, um vielleicht auf ihn einzuwirken. Aber dann musste sie sich eingestehen, dass sie ihn nicht kannte und es ihr einfach nicht zustand, weitere Ratschläge zu geben. Außerdem bot er ihr auch keine Gelegenheit mehr, wieder zu reden. Seine Schultern hingen vorne über, seine Füße schlurften über den Kiesweg. Sein Blick, der sonst so oft nach ihren Augen gesucht hatte, klebte auf seinen Händen oder auf dem Boden. Er arbeitete ohne Pause. Nur wenn die Zigarette ausging, hörte er kurz auf und drehte eine Neue. Das Gespräch kam Sandra vor wie ein Versehen. Es war ihm entwischt. Der Raum zwischen ihnen war bisher leer gewesen: keine Erwartungen oder Vorbehalte hatten sich breit gemacht und sie zum Handeln gezwungen. Sie waren nur Kollegen gewesen. Plötzlich war in der Stille zwischen ihnen eine Nähe, obwohl sie sich immer noch nicht kannten. Sie wusste, dass er auch an den Wochenenden arbeitete. Dann legte er Beete und Teiche an und ließ sich in bar bezahlen. Es kam ihr wie ein Einverständnis vor, einfach weiterzumachen. Dann dachte sie an seinen Arbeitsvertrag und war sich nicht mehr sicher, für wie fair sie den Chef halten sollte. Sie kannte die Konditionen einfach nicht, zu denen Malic arbeitete. Vielleicht war es pure Not und Zwang und hatte mit Akzeptanz nichts zu tun. Sie fragte sich, wieso er mit ihr darüber gesprochen hatte. Wie es ihm möglich war, mit dem Wissen um die Erkrankung allein zu bleiben. Und wie er dazu kam, sich gerade ihr anzuvertrauen? Oder konnte es nur sie sein? Eben weil sie nur Kollegen waren?

Sandra stopfte die Primeln wahllos in die Beete. Immer wieder schielte sie nach Malic, aber sein Kopf blieb unten, auf seine Hände gerichtet.

Das Wetter hatte sich geändert. Die Wolken lösten sich weiter auf. Die Sonne schien immer wärmer und es roch ein bisschen nach Frühling. Gegen drei Uhr hatte Sandra das letzte Grab bepflanzt. Sie sammelte die restlichen Blumen ein, füllte mit ihnen eine Kiste und trug sie zum Transporter zurück. Malic war schon da. Er saß auf der Bank, wie vorhin, rauchte und trank aus dem Becher. Sie setzte sich neben ihn.

“Was Du mir erzählt hast, von deiner Krankheit.”

“Das war dumm!” Malic streckte sich. “Das geht dich nichts an.”

“Aber Du hast es mir gesagt.”

“Das war…das soll dich nicht sorgen. Vergiss es. Vergiss den Job. Geh in die Uni und vergiss, das hier. Ist sowieso Saudreck.” Er spuckte Tabak auf den Weg.

“Für mich ist der Job gerade wichtig.”

“Ich weiss. Jede Ferien kommen sie, die Studenten, wie du, arbeiten — ein bisschen. Und dann wieder schnell zurück in die heile Welt. Du auch. Du gehst wieder.”

“Meine Welt ist nicht heile.”

“Natürlich.” Malic schaute sie nicht an. “Entschuldigung. Sandra. Kind. Du bist gut. Wie eine Tochter, ja? Nicht wie diese alle…” Und dann fluchte er in endlosen Sätzen auf polnisch. “Das war gut.” Malic sah auf seine Hände, als läge in ihnen eine Lösung. “Weißt Du, ich denke manchmal mein Herz ist krank, wegen diesem Saudreck.” Er schwenkte seine Arme über dem Kopf. “Es gibt Leute, die leben einfach. Urlaub hier, Restaurant da. Die werden uralt. Manchmal möchte ich diese Scheisse — Menschen nehmen und ihren Kopf so, mit meinem Fuß…. Sie wissen nicht, was Leben heißen kann.”

“Nein,” sagte Sandra und starrte auf die Rinde einer Kiefer. “Das wissen sie nicht.”

“Was ist bei dir? Wieso bist Du heute so?” Er legte seine Hand auf ihre Schulter, zog sie aber gleich wieder zurück.

“Ich weiß nicht, …ich weiß einfach nicht, wie…” Die Worte warteten schon lange in ihr darauf ausgesprochen zu werden. Einzeln presste sie sie hervor. “Ich weiss nicht wohin. Ich lebe auf der Kippe. Da ist kein Netz unter mir. Ein Schritt daneben, dann falle ich. Ich bin erschöpft, Malic. Kaputt. Das darf aber nicht sein. Ich kann es mir nicht leisten, mich auszuruhen. Es wäre einfacher, wenn ich wie alle nur einen Job wollen würde. Ich will aber mehr. Mehr von meinem Leben.”

“Mehr als einen Job?” Malic schaute sie an. “Was denn mehr?”

“Ich…,” sie suchte nach Worten, um zu erklären, dass sie sich wünschte, mehr zu sein als ein Mensch, der arbeitete und im Privaten seine Zeit und Freiheiten genoss.

“Was ist falsch an einem Job?”

“Nichts. Nichts ist falsch. Nur…”

“Was?”

“Ich will auch einen Job. Einen Guten. Einen, der mich nicht aushöhlt. Aber dafür fehlen mir die Mittel. Ich kann nicht die Arbeit machen, die ich machen will.”

“Wieso willst Du arbeiten?” Er betrachtete sie wie einen Käfer, den er noch nie gesehen hatte. “Du hast doch so viel. Was machst Du hier? Das ist ein guter Job für mich. Für dich ist er scheisse, ja? Nicht genug, ja? Ich bin nicht blöd. Ich weiss, mit einem Studium gibt es mehr, als sich kaputt zu machen auf meinem Tothof. Geh Sandra. Geh doch in dein scheiss — mehr — Leben. Geh! Jetzt! Mach dich nicht kaputt mit einem scheiss Job. Mach dein Leben toll, mit allem was Du willst.” Er fuchtelte vor ihrem Gesicht herum. Sie stand auf. Malic schrie sie weiter an und vertrieb sie mit den Händen wie ein Insekt.

Sie war gegangen. Erst sehr schnell, den Weg nach oben, den Hügel wieder hochgelaufen. In der ersten Kurve war sie stehen geblieben. Da saß er schon wieder auf der Bank, rauchte, spuckte Tabak auf den Weg und schlürfte den kalten Glühwein.

Sie lief weiter. Immer auf dem Hauptweg, der sich über den Friedhof nach oben zur Gärtnerei und zu ihrem Auto schlängelte. Ihr Atem ging schnell. Ihre Gedanken verhedderten sich, bei dem Versuch Malics Ausbruch zu verstehen. Nur der Entschluss stand fest: sie würde gehen. Sofort. Ohne mit dem Chef zu sprechen. Einfach fahren. Sie wollte weg. Runter vom Tothof.

Hinter einer Kurve sah sie eine alte Frau vor einem Grab knien. Um sie herum lag Papier auf dem Schotterweg und auf dem kleinen Grasstück um das Grab. Sie schrieb und redete dabei vor sich hin. Weisse und schwarze Haarsträhnen fielen unter ihrer Mütze heraus und über ihr Gesicht. Sandra hob ein Blatt vom Weg auf. Das Gekritzel darauf war unmöglich zu entziffern. Sie stellte sich neben die Frau. Die sah nur kurz auf und schrieb und murmelte dann weiter. Blatt für Blatt rutschte von ihrem Schoß und wurde vom Wind über das Grab und über den Weg getragen.

„Wem schreiben sie da?“ fragte Sandra endlich.

„Meiner Mutter.“ Sagte die Frau nur und stieß ihren verknöcherten Finger einmal gegen den Grabstein. „Da liegt meine Mutter.“ Dann schrieb sie weiter.

Sandra drehte sich irgendwann weg. Sie schleppte sich den Berg weiter nach oben. Wurde dabei immer langsamer und blieb stehen. Sie sah zurück. Da unten würde Malic wieder arbeiten, rauchen, fluchen und nicht länger an sie denken. Dann entschied sie sich: von der Neigung des Hangs ließ sie sich wieder nach unten, den Weg zurückziehen. Sie kam an der alten Frau vorbei und war sich plötzlich sicher: nicht dieser Job machte sie kaputt, sondern das ewige an sich selbst herumschrauben, um noch die letzten Potentiale zu wecken und auszuschöpfen. Das immer gleiche Fragenkarussel, das sich drehte und doch nur darum kreiste, wie man für sich selbst die richtigen, besten und optimalen Entscheidungen treffen könnte. Das machte sie kaputt. Der Job hier, hatte ihr Ruhe und Klarheit gegeben. Das wollte sie Malic sagen. Und dann wollte sie bleiben. Fürs Erste in diesem Job bleiben und wieder zu sich kommen. Aussteigen aus der Qual, das Allerbeste aus sich selbst machen zu müssen und dabei doch nur tagtäglich zu scheitern. Das war kein Leben für sie, das wusste sie plötzlich. Sie wollte da sein und nicht wie die anderen bloß als Touristin mal eben in einem Job absteigen. Sie wollte bei Malic sein und ihr Bestes tun, damit es nicht einfach „patsch“ machte. Nicht für ihn. Sondern vor allem, um der Egomanie um sich herum, bewusst etwas entgegenzusetzen. Sie ließ sich schneller den Hang herunter treiben und stellte sich dabei vor, wie der steinerne Engel den Kopf ein kleines bisschen anheben würde, um ihr nach zu blinzeln.

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